der steinhaufen tina denecken ich bin ihm in barcelona begegnet, und es war im september 1980. das

Der Steinhaufen
Tina Denecken
Ich bin ihm in Barcelona begegnet, und es war im September 1980.
Das Abitur sozusagen druckfrisch in der Tasche beschloss ich, zwei
Wochen Urlaub bei meiner Tante und meinem Onkel zu machen. Die
Schwester meiner Mutter führte mit ihrem Mann ein erfolgreiches
Architektenbüro in Barcelona, und ihre Tür stünde für mich offen,
hatte sie am Telefon gesagt. Ein Gästezimmer, ein voller Kühlschrank,
keine Vorschriften, und das alles mitten im Herzen dieser riesigen
Stadt.
Ich hatte damals einen festen Freund. Da er sich im ersten halben Jahr
seiner Ausbildung befand, also auf keinen Fall frei bekam, ich aber
auch meine Reise auf keinen Fall verschieben wollte, flog ich allein.
Jedenfalls war dies die Version, an die ich mich damals hielt. Im
Grunde wollte ich alleine reisen. Unabhängig sein, und einfach weg.
Endlich Sonne, Meer und andere Gesichter.
Meine Mutter machte sich Sorgen. Sie machte sich immer Sorgen. Um
mich, meine jüngeren Brüder, sogar um den Hund, wenn er beim Spielen
im Park nur für Sekunden außer Sichtweite war. Vielleicht hatte es
damit zu tun, dass mein Vater so früh gestorben war. Ich kann mich
kaum an ihn erinnern und bin nicht sicher, ob sich diese ständige
Angst um uns erst dann entwickelt hatte.
Während der Oberstufenzeit bin ich zwei Mal mit Freunden im Urlaub
gewesen. Einmal in einer Jugendherberge in Berlin, das andere Mal mit
einem alten VW-Bus quer durch Italien. Aber dies würde meine erste
Reise ganz alleine werden, abgesehen davon, dass ich bei Verwandten
wohnte. Aber Onkel und Tante waren den ganzen Tag unterwegs. Meine
Mutter wusste das und war krank vor Angst, noch bevor ich anfing
Koffer zu packen. Aber nachdem es ihr nicht einmal gelang, meinen
Freund mit ihren Bedenken anzustecken, ließ sie mich gehen.
Für meinen Abreisetag hatte er extra eine Schicht getauscht. Er trug
meinen Koffer zum Auto, setzte mich am Flughafen ab und gab mir einen
Kuss zum Abschied. Erst als ich mich in die Schlange zum
Ticketschalter einreihte, spürte ich einen Anflug von Reisefieber. Die
routinierte Art des Mitarbeiters, der mein Gepäck entgegennahm, meinen
Reisepass überprüfte und mir meine Boardingcard aushändigte, machte es
mir leichter, mich unbemerkt unter jene zu mischen, für die es
offensichtlich nicht der erste Flug war. Ich hatte mir schon als
Teenager eine ganz eigentümliche Sicht der Dinge zu Eigen gemacht, die
sich mir mein ganzes Leben lang hin und wieder und in den
unterschiedlichsten Alltagssituationen überstülpte. Ich bin mir bis
heute nicht im Klaren darüber, ob ich jene Haltung freiwillig annehme,
meine Person durch die Augen anderer, auch Fremder, wahrzunehmen. Gehe
ich in einem Kinosaal die Stufen hinauf, vorbei an leeren und
besetzten Sitzreihen bis hin zur Loge, ist es, als folge ich mir
selbst im Augenwinkel. Befinde ich mich in einer fremden Stadt,
vielleicht in einem Bistro, vielleicht in einer Buchhandlung, dann
schiebe ich meinen Rucksack mit dem Fuß unter meinen Stuhl oder hinter
das nächste Regal, um für einen Moment auf meine Umgebung zu wirken,
als gehöre ich in diese Stadt und nirgendwo anders hin. Zugereiste
betrachten fremde Städte mitsamt deren Menschen. Und für einen Moment
bewundere ich mich selbst, als einen Teil dieses Ortes. Ein wenig
unheimlich wird mir dann zumute, wenn ich auf diese Weise aus mir
heraus trete, während ich mein Bild im Spiegel erkenne. Ich spiegele
mich nicht, ich beobachte mich. Und was ich sehe, ist mir manches Mal
fremd.
Und nun folgte ich bis zum Gate den Schritten eines jungen Pärchens,
das unmittelbar vor mir für denselben Flug eingecheckt hatte. Weder
diese beiden noch irgend jemand anderes, der in meine oder die
entgegengesetzte Richtung strömte, bemerkte, dass ich mich, ohne
wirklich hinzusehen, mit meinem Blick an ihnen festhielt, um dabei den
Anschein zu erwecken, als bewege ich mich souverän durch die
verschiedenen Ebenen, Hallen und Flure des Flughafens auf meinem Weg
nach Barcelona.
Anschnallgurte klicken, die Türen der Gepäckablagen klappen zu,
Zeitungen rascheln, alles Geräusche, denen niemand Beachtung schenkte.
Außer mir. Obwohl ich mir nichts anmerken ließ, scheinbar tief in die
Zeilen meines Romans eintauchte, ohne dabei die kleinste Regung auf
den Plätzen zu meiner Linken oder in dem winzigen Fenster zu meiner
Rechten zu missachten. Meine Augen wanderten die Zeilen entlang, aber
ich verinnerlichte keinen einzigen Satz. Dieser Flug würde ewig
dauern, wenn ich nicht endlich abschalten könnte, endlich denken
könnte, wie andere Menschen denken, ohne diesen Umweg. Ich ging mir
damals auf die Nerven und ich tue es immer noch.
Schließlich landete ich also in Barcelona. Eigenartig. Die gleichen
Ebenen, Hallen und Flure, und doch erkannte man, sah, roch und
schmeckte man, dass es kein deutscher Flughafen war. Ich war überzeugt
davon, dass das Laufband ausgerechnet meinen Koffer nicht ausspucken
würde. Eigentlich auch in dem Moment noch, als ich ihn vom Band hob.
Und dann überkam mich eine nagende Angst. Ingrid, meine Tante, hatte
mir versprochen, mich abzuholen. Sollte sie es nicht schaffen, würde
sie einen ihrer Mitarbeiter schicken, damit ich nicht mit dem Zug oder
einem Taxi ins Zentrum fahren müsste. Aber wo würde sie warten? Gleich
hinter der Milchglastür, am Haupteingang, auf dem Parkplatz? Und wie
würde ich ihren Mitarbeiter erkennen? Ich war nicht weniger nervös als
vor der mündlichen Abiprüfung, und das ärgerte mich. Es war Zeit, sich
wie eine Erwachsene zu benehmen, Herrgott nochmal. Ingrid winkte mir
lachend zu, als ich die Zollschleuse passierte. Ich würde nicht
verloren gehen. Alles war gut.
Ingrid war absolut im Stress, aber sie freute sich ehrlich, mich zu
sehen. Schon auf der Fahrt entschuldigte sie sich mehrmals, dass sie
wahnsinnig viel zu tun hätte, mich nur kurz zu Hause rausschmeißen und
sofort wieder ins Büro zurück müsste. Ich versicherte ihr, das sei
kein Problem, ich würde in Ruhe auspacken, eine Dusche nehmen und
vielleicht die nächste Umgebung erkunden. Ingrid steckte mir einen
Hausschlüssel zu, eine ihrer Visitenkarten, auf deren Rückseite sie
die Privatadresse notiert hatte und einen tausend mal gefalteten
Straßen- und Metroplan, der bereits auseinander zu fallen drohte. Ich
stopfte alles in die Seitentasche meines Rucksacks und genoss einfach
die Fahrt. Schilder, Strommasten und Fabriken flogen an mir vorbei.
Erst nach etwa zwanzig Minuten tauchten wir in das dichter werdende
Häusermeer der Stadt ein. In Deutschland war ich ein schlechter
Beifahrer, aber hier ließ mich das Verkehrschaos kalt. Im Ausland
fahren alle so. Hier passiert mir nichts. Ein absurder Gedankengang,
aber er funktionierte.
Auf direktem Wege hätten wir wahrscheinlich die Hälfte der Zeit
gebraucht, aber vor uns spannte sich ein Netz aus mehrspurigen
Einbahnstraßen, das uns von Ampel zu Ampel im Kreis und an der Nase
herum zu führen schien.
„Da sind wir.“ sagte Ingrid und hielt in einer eben jener mächtigen
Straßen, durch die sich der Verkehr wie eine tosende Lawine wälzte.
„Es ist die schwarze Tür dort. Oberstes Stockwerk. Ich rufe dich
später an.“ sagte Ingrid, tätschelte mir die Schulter und fuhr weiter,
sobald ich meinen Koffer vom Rücksitz gehievt und die Tür zugeworfen
hatte. Nach wenigen Metern kam sie mit quietschenden Reifen zum
Stehen, beugte sich nach vorne und rief durchs geöffnete
Beifahrerfenster:
„Inken, brauchst du Geld?“
„Nein, danke“, rief ich zurück, „ich habe zu Hause schon was
umgetauscht!“
Sie winkte mir noch einmal zu und brauste davon.
***
Ich legte den Kopf in den Nacken und kletterte mit den Augen die sechs
Stockwerke des sandfarbenen Hauses hoch, eingepfercht zwischen
Wohnhäuser ähnlicher Farbe und ähnlicher Höhe. Was sie voneinander
unterschied, waren ihre Dächer, Fenster und Türen. Diese Tür war
schwarz, wie Ingrid es gesagt hatte. Trotzdem verglich ich die
Hausnummer mit der Adresse auf der Visitenkarte, bevor ich den
Schlüssel in das Schloss steckte. Carrer de Tanger 24. Richtig.
Ich zerrte den Koffer durch die schwere Tür und zog ihn hinter mir her
bis zum Fahrstuhl. Erst jetzt fiel mir ein, wie hilflos ich da
gestanden hätte, wäre dieser nicht vorhanden gewesen. Zwar ließ ich
mir wieder nichts anmerken, denn ich beobachtete mich heimlich, wie
ich mich so machte in der fremden, großen Stadt, in einem ganz
normalen Wohnhaus, mit ganz normalen Leuten, die morgens zu Arbeit
gingen und sich nichts weiter dabei dachten, diesen Aufzug zu
benutzen, aber ich fand ihn einfach großartig. Er hatte eine äußere
Tür, mehr ein Rahmen, der mit einem festen Gitter bespannt war, und
eine innere Tür, eine Art Gatter aus Eisenstangen, die man zusammen-
und auseinanderziehen konnte. Ein Fahrstuhl mit zwei Türen, wie in
einem alten französischen Film. Laut Knopfleiste gab es fünf
Stockwerke, obwohl ich von der Straße aus mindestens sechs gezählt
hatte, und über der Fünf eine weitere Taste mit einem „A“. Ich war
unsicher und wählte zunächst die fünf. Die Anlage dröhnte durch das
gesamte Treppenhaus, als sich der Lift langsam mit mir nach oben
bewegte. Im fünften Stockwerk kam ich mit einem Ruck zum Stehen,
öffnete die beiden Türen und spähte in den Hausflur. Dort waren drei
Wohnungstüren, zwei mit Klingelschild und kaum lesbarer Aufschrift,
der Name meiner Tante war aber definitiv nicht darunter, und eine Tür
ohne Schild. Aber Tante Ingrid und Onkel Gerd waren Deutsche,
undenkbar, dass ausgerechnet an ihrer Tür kein Schild angebracht
worden war. Ich wagte nicht, auf gut Glück den Haustürschlüssel
auszuprobieren und schlüpfte zurück in den Lift. Also doch die Taste
„A“. Und tatsächlich, hier gab es noch eine Etage, allerdings mit nur
einer Wohnung. Und daneben: ein Klingelschild mit gedruckten
Buchstaben. Na also!
Die Tür ließ sich nur mittels heftigen Rüttelns öffnen, aber
schließlich trat ich in den schmalen Flur einer sonnendurchfluteten
Wohnung, viel moderner und komfortabler, als das Haus von der Straße
aus betrachtet vermuten ließ. Ich ließ den Koffer erst einmal stehen
und setzte neugierig einen Schritt vor den anderen. Wände und Decken
des Eingangsbereichs waren aufwendig modelliert, so dass der Eindruck
entstand, als sei der Durchgang aus einem Felsen geschlagen worden.
Ein dezentes Relief in mattem hellgrau, durchzogen mit feinen,
schimmernden Linien wie Adern einer Silbermine. Rechts in Kopfhöhe
waren schmiedeeiserne Haken angebracht, an denen zwei leichte Jacken,
ein Seidenschal und zwei lederne Handtaschen hingen. Selbst das wirkte
in diesem Augenblick kunstvoll arrangiert. Darunter, leicht versetzt,
hatte eine Art Fußbank ihren Platz gefunden. Eine Holzbohle auf zwei
Füßen, Strandgut vermutlich, die sich in ihrer perfekten Form wie
zufällig an die unebene Wand schmiegte. Mein Blick fiel auf die leicht
abgeschrammelten Spitzen meiner Turnschuhe, die so gar nicht in das
Bild passten. Ich streifte sie ab, gab ihnen einen Schubs in Richtung
Koffer und tapste barfuß weiter. Die Sonnenstrahlen, die durch die
Fenster in die Wohnung drangen, hatten das blanke Parkett aufgewärmt.
Hinter der ersten Tür, gleich am Ende des Flurs, verbarg sich ein
wunderschönes Badezimmer mit Wand- und Bodenfliesen wie aus weißem
Sand. Die Badewanne war außen aufwendig verziert mit
fingerabdruckgroßen Mosaiksteinchen und innen strahlend weiß. Ein
großer Spiegel über Eck, ein kreisrundes Waschbecken, ein WC, ein
Sideboard aus dunkelbraunem Holz. Weiter nichts. Ich wagte kaum
einzutreten. Erst einmal weiter umschauen.
Küche, Ess- und Wohnbereich waren Platz sparend kombiniert, da die
Wohnung zwar bildschön, aber ziemlich klein war. Die natürlichen
Farben und Materialien fanden sich in der ganzen Wohnung wieder. In
der Arbeitsplatte in der Küche, in den Fensterbänken und
Sitzgelegenheiten. Ein komplett anderer Stil, eine komplett andere
Qualität als bei uns zu Hause. Sicher, Ingrid und Gerd hatten keine
Kinder, waren Großverdiener und so gut wie nie in ihrer Wohnung. Meine
Mutter und wir Kinder waren zwar gut versorgt, aber für große Sprünge
reichte es eben auch nicht. Jeder hatte sein eigenes Zimmer, das war
mehr als in Ordnung. Und meine Eltern hatten sich für IKEA
entschieden. Auch völlig in Ordnung. Aber das hier, das war
atemberaubend. Da steckte nicht einfach nur Geld drin, sondern auch
ein Händchen für Raumgestaltung und außergewöhnlicher Geschmack. Ein
außergewöhnlich guter.
Zwei weitere Räume konnte ich noch ausmachen. Das Schlafzimmer,
schlicht und edel, und ein Lese-, Arbeits-, Gästezimmer. So genau ließ
sich das nicht sagen, aber himmlisch schön war es allemal.
Das, was am Ende alles übertraf, war nur bedingt Teil dieser Wohnung.
Die Dachterrasse. Nicht das Gartenmobiliar, nicht die duftenden
Pflanzen. Es war der Blick über die Dächer. Einmalig, sodass es meinen
Gedanken die Sprache verschlug. Unter mir tobte der Verkehr, im
Hinterhof stritten Kinder. Aber in mir herrschte absolute Stille. Als
ich zu mir kam, war ich wild entschlossen, auf eigene Faust diese
wundervolle Stadt zu entdecken.
***
Nachdem ich meinen Koffer ausgepackt, eine Dusche genommen und meine
Mutter angerufen hatte, war die spanische Sonne schon fast
untergegangen. Ich machte mich gerade startklar für eine erste
Erkundungstour, als das Telefon klingelte. Es war Onkel Gerd. Ich
konnte ihm versichern, dass ich mich bereits ganz gut zurecht fand und
noch ein wenig spazieren gehen wollte. Vor 22 Uhr würden sie nicht aus
dem Büro weg kommen, sagte er mit Bedauern, und ob ich denn Hunger
hätte. Alles Mögliche sei im Kühlschrank, da sie keine Ahnung hätten,
was junge Damen gerne essen.
„Das ist lieb“, sagte ich, „ich komme schon klar. Wirklich! Alles
bestens! Es gibt sowieso nichts, was ich nicht esse, glaube ich.“
„Nimm dir was mit für unterwegs. Dann musst du nichts kaufen, wenn du
Durst kriegst. Okay?“
„Okay.“
Ich kippte den Inhalt meines Rucksacks aufs Bett, stopfte etwas
Bargeld, meinen Fotoapparat, eine Packung Taschentücher, eine
Sonnenbrille, einen Fettstift für die Lippen, Reiseführer, Stadtplan,
Schlüssel und Visitenkarte wieder hinein. Ich habe nie kapiert, wieso
ich immer eine große Tasche mit mir rumschleppe und andere nicht. Auf
keines dieser Dinge könnte ich an einem solchen Tag verzichten. Ich
kann genau genommen nie darauf verzichten. Habe ich kein Taschentuch
dabei, läuft die Nase oder ich mache mich irgendwo schmutzig. Habe ich
keinen Fettstift dabei, brennen die Lippen. Und wenn ich Robert
Redford im Supermarkt begegne? Dann habe ich garantiert keinen
Fotoapparat dabei. So sieht es doch aus. Der entscheidende Nachteil
dieses Rucksacks: er entlarvt mich als Tourist. Auch wenn ich in
meiner Heimatstadt exakt genauso ausgestattet unterwegs bin! Das werde
ich niemals verstehen.
Gespannt öffnete ich die Kühlschranktür. Coladosen. Das war das Erste,
das mir auffiel. Man merkte, dass die beiden keine Kinder hatten. Aber
für mich war das okay. Zumindest im Urlaub. Zu Hause hätte ich, wenn
überhaupt Cola light getrunken. Ich packte schon mal zwei davon in
meinen Rucksack. Und zu essen? Ich sah Schokolade, Äpfel, Joghurt,
eingeschweißte Sandwiches mit hartgekochtem Ei, okay, es gab doch
etwas, das ich nicht aß, dann noch Butterkekse, wieso waren die im
Kühlschrank? ...Weißbrotscheiben, Käse, Ketchup und ein paar Dinge,
die ich auf die Schnelle nicht zuordnen konnte. Ich entschied mich für
einen Apfel und die Kekse und machte mich auf den Weg.
***
Als ich auf die Straße trat, schlug mir schwüle Hitze entgegen. Hitze,
Staub, Abgase, gibt es irgendetwas, das besser riecht? Ich war in
Barcelona. Die Antwort lautet Nein. Ich marschierte los und scannte
mit Augen, Nase, Ohren die Straße mitsamt Hauseingängen, Passanten,
Autos und überquellenden Mülltonnen. Einmal links, einmal rechts, dann
steigerte ich instinktiv das Tempo. Als hätte er auf mich gewartet und
leise nach mir gerufen, lag er da. Der Placa de Catalunya. Dort
standen, saßen und strömten die Menschen durcheinander. Dort wurde
musiziert, gelacht, geredet, und ein Pulk Tauben stob auseinander, als
einer der Straßenmusiker Beifall bekam. Jetzt konnte ich meinen
Schritt wieder verlangsamen, schritt, fast ehrfürchtig, quer über den
Platz, blieb in der Mitte stehen und drehte mich ganz langsam einmal
um mich selbst. Zum Greifen nah Grünflächen mit sich tummelndem
Jungvolk, Wasserbecken mit nackten Füßen und erschöpften Gesichtern
Pausierender, dahinter die in die Dämmerung getauchte Kulisse des
Stadtkerns. Banco Espanol, Telefonica, das gewaltige Kaufhaus El Corte
Ingles. Ich drehte mich noch einmal und noch einmal und taumelte auf
die Stelle zu, an der sich der Platz wieder zu Straße verengte. Hier
floss das bunte Treiben vorwärts wie in einem Flussbett. Von links und
von rechts Häuserfront, dann Gehweg, dann Fahrbahn, dann hohe Platanen
und dazwischen die berühmten Ramblas. Ich reihte mich ein und ließ
mich vorwärts treiben. Alle paar Meter Straßenkünstler, maskiert,
kostümiert und regungslos, bis hin und wieder jemand eine Münze zu
wirft. Dann ein Blinzeln, ein Lächeln, ein Winken und wieder
Erstarren. Ich sah Stände mit Blumen, Federvieh und gemalten Bildern,
sah Bistros mit Kellnern, die Glaskrüge voll Sangria balancierten, sah
Zigeuner und Backpacker, Pudel und Penner. 1180 lebendige Meter, bis
sich das Monument a Colom, das Kolumbus-Denkmal, in ganzer Größe vor
mir auftat. Mein Reiseführer, den ich mit so vielen Klebezetteln
versehen hatte, dass er auf die doppelte Größe angeschwollen war,
verriet mir, dass der gute Mann dort oben mit ausgestrecktem Finger in
die falsche Himmelrichtung weist. Meerwärts und nicht zur Neuen Welt.
Aber ich folgte brav seinem Fingerzeig und schaute aufs Meer. Es hieß
mich willkommen. Ich winkte gerührt zurück und machte Kehrt.
***
Nach einer angeregten Unterhaltung mit Onkel und Tante bis weit nach
Mitternacht und dem einen oder anderen Glas Rotwein zu viel auf meine
damals wohl eher jungen Tage, erwachte ich am nächsten Morgen in dem
Moment, als die beiden die Haustür hinter sich zu zogen, um ins Büro
zu fahren. Tatendrang verdrängte Müdigkeit. Ich tapste barfuß zum
Frühstückstisch. Auf meinem Teller lag ein lieber Gruß und eine
Wegbeschreibung zum nah gelegenen Busbahnhof, von welchem aus ich zum
Parc Güell gelangte, den ich mir für diesen Tag vorgenommen hatte.
Der Bus quälte sich durch den Verkehr und immerzu bergauf. Und Ingrid
sollte Recht behalten, als sie mir versichert hatte, dass ich schon
erkennen würde, wo ich auszusteigen hatte. Als hätte man die
Hügelflanke mit Farbbeuteln beworfen, eröffnete der bizarre
Haupteingang den Blick auf eine steinerne Treppe hinauf zu einer
Säulenhalle, in zwei Hälften geteilt durch ein Wasserspiel mit
Majolika-Echse. Bunter als bunt. Ich legte meine Hand auf seine Pfote.
Pfote? Kralle? Was auch immer. Dann folgte ich sonnengebräunten
Kinderbeinen die Treppe hinauf und immer weiter bis auf das Dach der
Säulenhalle. Berauscht durch den Anblick betrat ich den ebenen Platz,
gesäumt von einer wellenartig geformten Sitzbank, die sich kurvig am
Rand entlang schlängelte. Mosaik in allen Farben. Kein Meter glich dem
anderen. In einer der Ausbuchtungen ließ ich mich nieder. Von dort aus
bot sich mir der Blick über die ganze Stadt und das angrenzende Meer.
Ich war in Gedanken versunken. Einige Minuten mussten verstrichen
sein, bevor ich bemerkte, dass neben mir deutsch gesprochen wurde. Ich
wandte mich vorsichtig um und schenkte meinen Sitznachbarn ein
Lächeln.
„Hallo.“ sagte das Mädchen. Sie schien kaum älter als ich, hatte einen
rotblonden Bob und ein waches Gesicht voller Sommersprossen.
„Auch Deutsche?“ sagte ich mehr feststellend, als fragend.
„Uns Deutsche erkennt man über all sofort, fürchte ich“, fügte ihr
Partner hinzu, „dafür brauchen wir uns nicht einmal auf deutsch zu
unterhalten.“
Er war groß und blond gelockt und vielleicht ein bisschen unsportlich.
Sie stellten sich mir als Knut und Maren aus München vor. Für eine
Woche in Barcelona und in drei Tagen würde es weitergehen nach Madrid.
„Inken“, sagte ich, „Inken aus Hamburg.“
Wir saßen noch eine Weile beieinander, schlenderten dann den ganzen
Nachmittag zusammen durch den Park und nahmen sogar denselben Bus
zurück in die Stadt.
„Also, Inken aus Hamburg, wir müssen hier raus, und für heute waren
wir genug auf den Beinen. Aber, wie sieht es denn morgen bei dir aus?
Wir wollen uns betrinken und tanzen bis zum Umfallen.“
„Ja genau. Das ist der Plan. Schließt du dich an?“ stimmte Maren mit
ein.
Trinken, Tanzen, Umfallen, das klang zu gut, als dass ich hätte
ablehnen können. Ich sagte zu. Auf dem Placa de Catalunya, morgen,
zwanzig Uhr, Warten bis halb neun, falls etwas dazwischen kommt.
Ich winkte noch einmal aus dem Fenster und fuhr weiter bis zur
Endstation.
***
Am darauffolgenden Tag packte ich wieder meine sieben Sachen zusammen
und eilte zum Placa de Catalunya. Warum ich eilte? Ich weiß es nicht.
Mein Gefühl sagte mir, dass der Tag dort begann, und ich wollte keine
Zeit vertrödeln. Dort angekommen musste ich nur eine Richtung wählen
und mich mit fortreißen lassen.
An diesem Tag kehrte ich dem Meer den Rücken und folgte dem Passeig de
Gracia in den Stadtteil L`Eixample. Ich konnte mich nicht satt sehen
an den mächtigen Bauten, Modegeschäften, Banken, Bars und Restaurants.
Die Casa Batllo am Ende des nächsten Blocks war so schön wie
absonderlich. Keine Ecken, keine harten Linien, als sei sie weich und
elastisch. Ornamente, aus denen Gesichter zu mir herüber zu sehen
schienen. Echsenhaut, rankende Pflanzen, eine Höhlenformation und
schimmernde Fliesen in allen Farben. Ein Haus wie ein Märchen.
Ich las seine Geschichte, fotografierte es noch einmal und noch
einmal. Und als ich meinen Weg fortsetzte, wandte ich mich immer
wieder um, nur um sicher zu gehen, dass es wirklich da war.
So ganz in Gedanken wäre ich dann an ihr um ein Haar vorbei gelaufen.
Die Casa Mila. Steinhaufen, wie böse Zungen sprechen. Erst als ich
merkte, dass viele derer, welche genau wie ich auf dem Passeig de
Gracia stromaufwärts trieben, an dieser Kreuzung absprangen, schenkte
ich dem Gebäude zu meiner Rechten Beachtung. Sie verdrehte mir den
Kopf ohne laute Farben. Den Kopf im Nacken, den Mund geöffnet, so
stand ich da, und es war mir in diesem Moment gleichgültig, ob ich wie
ein Tourist aussah, oder nicht. Die Formen der Casa Mila flossen
dahin, als habe das Haus Mühe, am selben Fleck zu bleiben.
Ein freundliches Schweizer Pärchen lud mich ein, mich ihrer Gruppe
anzuschließen, und so stolperte ich dankbar durch den Eingang, ein
metallenes Gittertor. Bizarr und voller Magie war dieser Ort, aber ich
war noch nicht angekommen. Mich drängte es hinauf. In dem engen
Treppenhaus hoch zum Dachstuhl ließ dieser Druck Stufe für Stufe von
mir ab. Die Sonne brannte auf meinen Wangen, als ich, hoch über der
Stadt, ins Freie trat. Ich konnte dem Verlangen, das gewölbte Gemäuer
und die mosaikverzierten Kamine zu berühren, nicht widerstehen. Die
Gruppe, der ich mich angeschlossen hatte, war längst weiter gegangen.
Aber ich stand da wie angewurzelt, legte die flache Hand auf den
nackten Stein und beobachtete die gespannten Sehnen auf meinem
Handrücken. Ich war so in Gedanken verloren, dass ich kurz
zusammenzuckte, meinen Blick aber nicht bewegte, als sich von links
jemand näherte. Eine fremde Hand glitt die geschwungene Linie der
Mauer entlang und streifte ganz flüchtig die meine. Erst jetzt sah ich
auf. Mein Blick traf seinen. Er lächelte verlegen. Seine braunen Augen
wollten um Verzeihung bitten, und dann war es vielmehr Erstaunen, was
sie verrieten. Er ging hinter mir vorbei, zögerlich, blieb stehen und
sah noch mal zurück. Wie elektrisiert starrte ich in sein Gesicht. Wie
ein Sog, den ich in mangelnder Erfahrung als Erschöpfung abtat, als
Kreislaufschwankung, als Hunger und Durst und alles zusammen.
Unschlüssig sah ich mich um, hatte noch gar nicht jeden Winkel
erkundet, aber glaubte, mich schnell entscheiden zu müssen.
Die Treppe hinunter und raus auf die Straße. Dort angekommen war ich
überzeugt, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Und so blieb
ich stehen und wartete. Wartete und erschauerte, als dieser Mann wenig
später durch den Ausgang auf den Gehweg trat. Er suchte und fand mich.
Diese seltsame Nähe, die mich unvorbereitet traf. Er war groß und
schlank, und seine beigefarbene Leinenhose flatterte um seine Beine,
als er sich mit lässigem Schritt, die linke Hand in der Hosentasche
vergraben und das Jackett locker über den Unterarm gelegt, näherte.
Die Millimeter kurz geschorenen dunklen Haare verrieten, dass der
einstige Ansatz einer Stirnglatze gewichen war. Sein sonnengebräuntes
Gesicht zeigte ein schneeweißes Lächeln.
„Auch allein unterwegs?“
Seine Stimme war tief und sanft und durchdringend.
Ich nickte lächelnd und ergriff die Hand, die er mir auffordernd
entgegenstreckte. Gebräunt, sehnig und behaart waren seine Unterarme.
Er hielt meine Hand solange fest, bis ich seine nächste Frage
beantwortet hatte.
„Beruflich – oder um Urlaub zu machen?“
„Um Urlaub zu machen. Ich wohne bei Verwandten, gar nicht weit von
hier.“
Er stellte sich mir als Jacob vor. Jacob hatte oft geschäftlich in
Barcelona zu tun. Aber heute wollte er einfach nur die Stadt genießen.
Massiv aber charmant fing er an mit mir zu flirten. Wieso mit mir,
fragte ich mich, einerseits irritiert, andererseits geschmeichelt. Ich
konnte es ja jederzeit abbrechen, mich verabschieden, in die
entgegengesetzte Richtung verschwinden. Auf nimmer Wiedersehen. Also
wovor Angst haben?
Ein müder Windhauch trug den Duft seines Aftershaves zu mir herüber.
Ein so angenehmer Duft, ein so lebendiges Gefühl, also ließ ich es
darauf ankommen. Mir war nach ein wenig Gesellschaft, mir war nach
Lachen und Flirten und nach einem Eiskaffee mit Schlagsahne.
***
„Du machst mich zu einem sehr glücklichen Mann. Ehrlich! In der Sonne
sitzen und Kaffee trinken – und das in so bezaubernder Gesellschaft.“
Wir hatte uns kurz einander vorgestellt, nur mit Vornamen. Er hatte an
diesem Tag keine Termine mehr und ich nichts auf der Liste, was nicht
hätte warten können.
War ich zu offensiv? Zu wenig interessant? Mach ich dir Angst? All das
huschte durch sein enttäuschtes Gesicht, als ich seine Einladung auf
einen Kaffee ausschlug. Es erhellte sich vor Erleichterung, nachdem
ich hinterher geschoben hatte, dass ich stattdessen einen Eiskaffee
nähme. Nur wenige Minuten, wenige Worte und Gesten, und wir hatten uns
auf eine gemeinsame Sprache eingestimmt.
Wir saßen über Eck unter einem gelben Sonnenschirm, und er erzählte,
dass er bei all seinen Reisen hierher wenig Gelegenheiten gehabt
hatte, sich alles in Ruhe anzusehen.
„Sagrada Familia? Ja sicher, da bin ich schon ein paar Mal gewesen.
Aber ich könnte sie mir immer wieder ansehen. Wenn du erlaubst,
begleite ich dich dorthin.“
„Okay, gerne.“
Aber wir blieben noch fast zwei Stunden sitzen, erzählten, lachten,
bis uns die Tränen herunterliefen. Vielleicht lag es an der Hitze,
vielleicht am pappig süßen Eiskaffee. Ein wohliger Schwindel hatte
sich um meine Schultern gelegt.
„Hast du gar keine Tasche?“
„Was denn für eine Tasche?“
„Na, wenn man den ganzen Tag unterwegs ist, braucht man doch eine
Tasche!“
„Portemonnaie. Sonnenbrille. Mehr brauche ich doch nicht. Was
schleppst du denn da alles mit dir rum? Zeig mal her!“
Ich kippte den Inhalt meines Rucksacks in meinen Schoß. Jacob beugte
sich zu mir herüber und nahm jedes einzelne Utensil nacheinander in
die Hand, um es ausführlich zu kommentieren. Er brachte mich dabei
derart zum Lachen, dass ich Schluckauf bekam.
„Reiseführer? Brauchst du nicht. Hast ja jetzt mich. Taschentücher?
Hier, du kannst meinen Ärmel nehmen. Und Geld? Also, du wäschst
nachher hier ab, dachte ich. Und was ist das hier?“
Jacob zog die Kappe von meinem Labello ab und drehte den Fettstift ein
Stückchen heraus. „Darf ich?“
Er strich vorsichtig damit über meinen Mund. Ich traute mich nicht zu
atmen, hielt ganz still und sah in seine Augen, die konzentriert der
Linie meiner Lippen folgten. Schweigend steckte ich alles wieder
zurück in meine Tasche.
„Er ist weg.“ flüsterte er.
„Wer?“ flüsterte ich.
„Der Schluckauf.“
„Richtig.“
„Wollen wir weiter?“
„Ja.“
Jacob zahlte die Rechnung und wies mit ausgestrecktem Arm den Passeig
de Gracia hinauf.
„Wir müssen noch ein Stück weiter in diese Richtung. Inken...ich weiß,
man fragt eine Dame nicht nach ihrem Alter, aber...würdest du es mir
trotzdem verraten?“
„Genau heute vor zwei Monaten bin ich zwanzig geworden.“
„Wirklich? Dann muss ich dir unbedingt etwas kaufen. Komm!“
Er griff nach meiner Hand, eilte plötzlich los und zog mich mit sich.
Lachend stolperte ich hinter ihm her, zwischen etlichen Passanten
hindurch und wahllos ins nächste Geschäft.
„Was denn kaufen?“
„Ein Geschenk.“
Er machte keine Anstalten, mich loszulassen, während wir uns umsahen.
Ein Foto-Fachgeschäft.
“Das ist nicht das Richtige. Wir gucken weiter.“
Und so stürmten wir von Laden zu Laden, mit einem stechenden Schmerz
in der Seite, da ich die ganz Zeit lachen musste wie ein überdrehtes
Schulmädchen.
„Ich kann nicht mehr“, japste ich, „im nächsten Laden werde ich mir
etwas aussuchen. Egal, was es für einer ist.“
„Und wenn es ein Bestattungsunternehmen ist?“
Dann nehme ich eine Urne und stelle Blumen rein.“
Es war kein Bestatter. Es war, soweit man das überblicken konnte, ein
Geschäft für Schreibartikel, Bastelwaren und Wohnaccessoires. Ich
schritt systematisch alle Regale und Warentische ab, Jacob folgte auf
dem Fuße, und entschied mich für etwas ungeheuer Kitschiges. Einen
handtellergroßen, regenbogenfarbenen Tiffanyspiegel in Form einer
Sonne.
„Das ist so hässlich. Aber irgendwie spricht es mich an.“
„Wenn du reinguckst, ist es schön. Siehst du?“
Ich hielt ihn so, dass wir uns beide darin spiegelten. Dieses Gesicht
an meinem, es war fremd und doch wieder nicht. Dieses Bild werde ich
niemals vergessen.
Ich habe es noch Jahre später darin erkennen können. Eines Tages,
lange, lange Zeit später, ist er mir aus der Hand gefallen und
zerbrochen. Und ich habe heimlich geheult.
***
Den Spiegel hatten wir, sorgsam in Papier gewickelt, in meinem
Rucksack verstaut und dann setzten wir unseren Weg in gemäßigterem
Tempo fort. Jacob hatte meine Hand losgelassen, aber sie fühlte sich
immer noch ein bisschen wärmer an als die andere.
„Ich verrate dir jetzt was. Ich hatte dieses Jahr auch einen runden
Geburtstag.“
„Du willst bloß, dass ich dir auch etwas kaufe.“
„Nein, du schenkst mir deine Zeit. Das ist mehr, als ich zu hoffen
gewagt habe. Nein, ehrlich, ich bin im Januar vierzig geworden.“
Er sah aus, als könnte er es selbst nicht glauben.
„Vierzig“, wiederholte er, „das ist alt.“
„Ja, sehr alt.“
„Steinalt.“
„Quasi scheintot.“
Er gab mir einen Stoß mit der Hüfte, sodass ich beinah zu Fall
gekommen wäre. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als seinen Arm zu
packen.
„Pass doch auf.“ tadelte er mich mit gespielter Strenge. Und klemmte
meinen Arm so fest ein, dass ich mich nicht mehr von ihm lösen konnte.
So schlenderten wir gemeinsam weiter, bogen rechts ab in die Avinguda
Diagonal, wechselten todesmutig im Laufschritt die Straßenseite und
hielten, schräg links durch die Carrer de Provenca, Kurs auf die
Sagrada Familia. Die Turmspitzen von Barcelonas Wahrzeichen ragten
majestätisch in den leuchtend blauen Himmel.
Die seltsamste und faszinierendste Kirche, die ich je gesehen hatte.
Mein Erstaunen wuchs mit jedem Schritt, den wir uns ihr näherten.
Kleckermatschburg, Fratze des Teufels, die verschiedensten
Assoziationen schwirrten durch meinen Kopf. Wir waren stehen
geblieben, und ich hatte es gar nicht gemerkt. Andächtig kletterte
mein Blick die steile Fassade hinauf. Gruselig. Wunderschön. Ich
konnte mich nicht entscheiden.
So gewaltig wie das Bauwerk war allerdings auch die Ansammlung
Schaulustiger, die sich vor dem Eingang gebildet hatte. Jacob sah mich
an und hob die Augenbrauen.
„Möchtest du rein ...oder rauf. Ich meine jetzt? Also, ich komme mit,
wenn du willst, aber...?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Lass uns drum herum spazieren. Ich kann an einem anderen Tag nochmal
wiederkommen. Vielleicht ganz früh. Dann ist es nicht so voll. Was
meinst du?“
„Ja, das klingt vernünftig. Sie ist von außen sowieso schöner als von
innen. Wir würden außerdem mindestens zwei Stunden verlieren, und wir
wollen doch noch Essen gehen und zum Strand und so.“
„Ach.“ rutschte es aus mir heraus. Und er lenkte schnell ab, bevor ich
hätte widersprechen können.
„Gib doch mal deinen schlauen Reiseführer her. Wenn du ihn schon bis
hier her schleppst.“
Er blätterte darin und las mir ein paar Passagen vor.
„Temple Expiatori de la Sagrada Familia, Sühnentempel der Heiligen
Familie, ist die wohl bekannteste Sehenswürdigkeit von Barcelona und
eine der eigenwilligsten Kirchen Europas. Antoni Gaudi übernahm 1883
die Bauleitung und veränderte fortwährend die Pläne, selbst als die
Bauarbeiten längst begonnen hatten. Die Fertigstellung ist bis heute
unabsehbar. Gaudis Hauptwerk ist nach wie vor ein Torso...Gesamtlänge
110 Meter, Hauptkuppel 160 Meter geplant...Noch immer stehen lediglich
das viertürmige Weihnachtsportal auf östlicher Seite, die Außenmauern
der Apsis, die Krypta, in der Gaudi 1926 bestattet wurde, und Teile
des Passionsportals auf westlicher Seite...Gotik, Neugotik, mit
pflanzenhafter, fließender Ornamentik des Jugendstils.“
Ich löste meinen Arm aus Jacobs, damit er weiter blättern konnte, und
lauschte seiner Stimme. Ab und an, wenn er sein Gewicht vom einen auf
das andere Bein verlagerte, berührte sein Oberarm meine nackte
Schulter, und ich fühlte seine warme Haut durch den Stoff seines
T-Shirts.
***
Es war so heiß an diesem Tag. Wir gingen, fast hätte ich schleppten
uns gesagt, obwohl es dem recht nahe kam, einmal um die Kirche herum.
Ich machte ein paar Fotos und war ganz erschlagen von diesem Anblick,
den hohen Türmen und der drückenden Sonne. Während wir auf der Stufe
eines schattigen Hauseinganges rasteten, suchte er nach Worten.
„Wir...Es war so ein netter Tag.“
„Er muss doch noch nicht vorbei sein.“
„Ja, ich sehe keinen Grund, warum wir jetzt schon auseinander gehen
sollten. Ich meine, du musst was essen, ich muss was essen, wir haben
viel Spaß zusammen und keine Pläne für den Nachmittag...oder
Abend...oder möchtest du lieber...“
„Nein, Jacob. Lass uns doch noch zusammen essen. Das wäre toll.“
Er lächelte zufrieden.
„Ich hab Durst. Also auf! Ich geb einen aus.“
„Vergiss es“, schnaubte er, „ich will mich von meiner besten Seite
zeigen. Da kommst du mir nicht in die Quere.“
Mit einem Satz war er wieder auf den Beinen, machte einen galanten
Diener und half mir auf.
„Junge Frau?“
„Danke, sehr aufdringlich, pardon, aufmerksam.“
Ich genoss es, an seiner Seite zu gehen und in den Augen all dieser
Fremden um uns herum den Anschein zu erwecken, als gehöre ich auch
dorthin, an seine Seite, in dieser Stadt und überall, nicht nur an
diesem Tag. Ging es ihm ähnlich? Er war bemüht um mich, er war lieb
und witzig, machte mir Komplimente und hatte mit verstohlenen Blicken
meinen Körper gestreift. Vorsichtig, heimlich, und ich hatte es doch
bemerkt. Ich trug ein sonnengelbes Baumwoll-Top mit Spaghettiträgern,
einen hellen Jeansrock, an der Hüfte eng, zum Knie hin weit, dazu
flache Schuhe aus weichem, schwarzem Wildleder und ein silbernes
Fußkettchen, das mich am Knöchel kitzelte wie der kurze Pferdeschwanz
im Nacken. Meine Gesamterscheinung mag nicht sehr feminin gewirkt
haben, aber ich hätte es schlimmer treffen können. Vielleicht hatte
ich an jenem Morgen instinktiv zum Rock gegriffen, einen hauchdünnen
Slip mit passendem Bustier gewählt und, dem Himmel sei Dank, die Beine
rasiert. Als mir bewusst geworden war, dass dieser Mann sich angezogen
fühlte, straffte sich meine Haltung, ich hielt meine Schultern
aufrecht und achtete auf meinen Gang, leichtfüßig und rege. Es fühlte
sich an, als sei ich unter seinen Blicken zwei Zentimeter gewachsen.
Aber was genau war es, das mich ansprach? Seine sonore Stimme, seine
straffen Unterarme, sein herbsüßer Duft, der mein Gesicht streichelte?
Es war die Kombination aus all dem, da bin ich sicher. Das war kein
junger Bursche, wie meine Kameraden aus der Oberstufe, das war ein
Mann, und er hatte mich, Inken, als seine Begleitung für diesen Tag
ausgewählt.
Wir entdeckten ein Bistro mit Terrasse abseits der Menschenströme,
aber nur eine Querstraße entfernt von den pulsierenden Adern der
Stadt. Wir bestellten einen Krug Sangria, eisgekühlt und leuchtend
rot, dazu Kräuterbrot und Butter. Die orangefarbene Markise bot Schutz
vor der gleißenden Sonne und tauchte unseren Platz in ein warmes
Licht. Ich berührte erst ganz zögerlich den kühlen Wein mit der
Zungenspitze, trank dann das erste Glas mit gierigen Schlucken, wobei
mir ein erfrischender Schauer die feinen Härchen auf den Unterarmen,
die durch die Sonne einen goldenen Glanz angenommen hatten,
aufstellte. Jacob hatte sein Glas zum Mund geführt und hielt inne, um
mich beim Trinken zu beobachten. Ein zweites Glas und meine Lider
wurden ein wenig schwerer, mein Lächeln sanfter. Ich war ein bisschen
beschwipst, fühlte mich leicht und wohl, und unsere Unterhaltung floss
einfach so dahin, ohne dass man nach Worten, nach Fragen und
Erklärungen suchen musste.
Der Kellner brachte noch etwas Brot, und Jacob bat ihn auf spanisch,
ein Foto von uns zu machen. Wir rückten mit den Stühlen aneinander, er
legte den Arm um meine Schulter, und ich neigte den Kopf zu ihm hin.
Der Kellner hielt den Apparat vor sein Auge, überprüfte noch einmal
die Kamera und versuchte es erneut. Sie schien defekt zu sein, obwohl
noch vor kurzem, bei der Sagrada Familia, alles einwandfrei
funktioniert hatte. Er zuckte hilflos und bedauernd die Achseln. Jacob
dankte ihm und nahm den Apparat entgegen.
„Wie schade. Vielleicht ist es die Batterie. Wir könnten nachher eine
neue besorgen.“
Er öffnete den Rucksack, der an meiner Stuhllehne hing, steckte die
Kamera hinein und ließ seinen Arm von da an auf meinem Rücken ruhen.
Mal strich er mit den Fingerspitzen zwischen den Schulterblättern hoch
den Nacken entlang bis in mein Haar, mal schloss sich seine Hand mit
sanftem Druck um meine Schulter. Ich war wie elektrisiert, und mein
ganzer Körper drängte zu ihm hin. Wenn ich trank, schloss ich die
Augen und betete, er möge nicht aufhören, mich zu berühren.
„Zwanzig“, sagte er leise, „ich habe dein Leben schon zweimal gelebt.“
Ich wusste, was er meinte. Aber es stand nicht zwischen uns. Ein wenig
war es, als hätte er um Erlaubnis gefragt, sich meiner annehmen zu
dürfen, und ich hatte sie ihm mit einem seligen Lächeln erteilt, war
ihm bis hier her gefolgt und würde erst gehen, wenn er den Tag für
beendet erklärte.
Der Nachmittag drückte uns in die weich gepolsterten Terrassenstühle,
und wir redeten, tranken und träumten, bis es Abend wurde.
„Ich habe große Lust, die Füße ins Meer zu tauchen. Was meinst du?
Wollen wir zum Strand?“
„Sehr gerne, aber ich weiß nicht, ob meine Füße mich noch bis dahin
tragen.“
„Wir nehmen ein Taxi.“
***
Hier saß ich nun, mit einem eigentlich doch wildfremden Mann, in einer
fremden Stadt, in einem Taxi, das sich durch den dichten Verkehr
Richtung Meer quälte. Das Kunstleder der Rückbank klebte an meinen
Kniekehlen, und es war stickig, obwohl die Sonne sich schon zurückzog.
Links sah ich den Gehweg vorbeiziehen, auf dem wir Stunden zuvor
gelaufen waren. Ich erkannte die Casa Mila, wo wir uns begegnet waren,
und die wir nun gemächlich hinter uns ließen, lächelte beim Anblick
der Placa de Catalunya und entdeckte im Geiste das erschrockene
Gesicht meiner Mutter inmitten derer, die dort auf das Nachtleben
warteten. „Was tust du da?“ fragte ihre besorgte Stimme, und ich
schüttelte nur besänftigend den Kopf. Sah sie denn nicht, wie
glücklich ich in diesem Moment war?
An meinen Freund zu Hause dachte ich nicht. Heute war ich nicht Teil
des Lebens, das wir sonst lebten. Ich war jetzt nur ich, und dabei
vielleicht doch gar nicht dieselbe.
Die Nähe zum Meer verschaffte uns wenigstens einen Hauch von Frische,
als wir ausstiegen.
„Ist alles in Ordnung? Du warst so still während der Fahrt.“
„Es war nur schrecklich heiß. Mir geht es gut. Sehr gut!“
Er glaubte mir und vergaß seine Unsicherheit. Der Strand war alles
andere als verlassen. Wie voll musste es hier erst am frühen
Nachmittag gewesen sein, wenn sich selbst kurz vor Sonnenuntergang
noch ein Mosaik aus farbigen Handtüchern, Sonnenschirmen und Leibern
über den Strand spannte? Aber was ging uns das an? Wir wollten ans
Meer und da waren wir, streiften die Schuhe ab, kehrten dem Rest der
Welt den Rücken und wateten ein paar Zentimeter ins Wasser. Jacobs
Hosenbeine wurden nass, obwohl er sie hochgekrempelt hatte. Aber es
schien ihn nicht zu stören.
Wir sprachen eine Weile gar nichts und sahen zum Horizont, als sich
verstohlen unsere Hände fanden. Niemand machte den Anfang, es war ein
Reflex, der uns beide gleichzeitig überkam. Unsere Finger griffen
ineinander, und ein Kribbeln flutete hüftabwärts durch meinen Körper,
bis in die Zehen, die sich in den nassen Sand gruben. Jacob schob
seine und meine Hand auf meinen Rücken und dreht mich zu sich hin.
Meine Lider zitterten, als er mit seiner anderen Hand mein Kinn hob.
Dann küsste er mich, erst mit geschlossenem Mund, setzte ab, berührte
wieder meine Lippen und öffnete sie vorsichtig, wie in Zeitlupe, mit
seiner Zungenspitze. Ein Kuss, lange und fordernd, der alles
veränderte, der mir, der uns den Boden unter den Füßen wegriss. Kein
Spiel mehr, wenn es das je gewesen war. Aus einem harmlosen
Urlaubsflirt war Ernst geworden. Aber kein bitterer. Der süßeste, den
meine Lippen je geschmeckt haben.
Ich konnte nicht anders, als meine Hand aus seinem Griff zu ziehen und
die Arme um seinen Körper zu schlingen. Sein Brustkorb hob und senkte
sich. Er drückte mich an sich, war erregt, das konnte ich spüren. Das
schönste Kompliment, das er mir machen konnte.
Die Sonne war ins Meer gefallen und unsere Füße taub. Er küsste meine
Stirn und meine Nasenspitze und deutete mit dem Blick Richtung Hafen.
„Lass uns was essen gehen.“
Ich schob schnell wieder meine Hand in seine. Er berührte mit den
Lippen die Innenseite meines Handgelenks, dann liefen wir gemütlich
Richtung Hafen.
***
Uns stand nicht der Sinn nach den überfüllten und lauten Restaurants
am Hafen oder auf den Ramblas. Wir beschlossen, uns etwas Kleines,
Abgelegenes, eine von Einheimischen bevorzugte Gaststätte zu suchen.
Aber bevor wir ins Barri Gotik eintauchten, den ältesten Teil der
Stadt, rief ich von einer Telefonzelle aus Ingrid und Gerd an. Wie
erwartet nahm niemand ab, also hinterließ ich eine Nachricht auf Band.
Berichtete kurz von Maren und Knut, den sympathischen Studenten aus
München, die ich im Parc Güell kennen gelernt hatte. Mit um
unbeschwerten und fröhlichen Ton bemühter Stimme erklärte ich, sie
sollten sich um mich keine Sorgen machen, es könnte spät werden, wir
wollten die Nacht durchtanzen. Ich sei in bester Gesellschaft und
würde auf mich acht geben.
Ich hängte ein, hatte gelogen, wusste mir nicht anders zu helfen.
Jacob hielt meine Tasche und stand etwas abseits. In Hörweite? Ich
weiß es nicht. Auch nicht, ob ich besonders überzeugend geklungen
hatte. An diesem Abend spielte es keine Rolle mehr. Später, ich würde
später darüber nachdenken.
Wir fanden ein winziges Lokal mit gedämpfter Beleuchtung und
zusammengewürfeltem Interieur. Kein Stuhl glich dem anderen, die
bereits anwesenden Gäste hingegen schienen durch die Bank weg ein
Jahrgang, ein Frisör, ein Humor. Außer mir kein weibliches Wesen. Alle
rauchten, tranken Wein oder Bier, erzählten und lachten. Zehn
Augenpaare richteten sich auf uns, als wir eintraten, aber lange waren
wir nicht von Interesse, zogen uns in den hintersten Winkel zurück.
Schäbig, aber romantisch, die Luft zum Schneiden, aber das Essen war
gut.
Landwein, Meeresfrüchte, Schinken, Oliven und ofenwarmes Brot. Wir
verschlangen alles, was uns der freundliche Wirt vorsetzte. Unterm
Tisch hielten wir unsere Knie aneinander gedrückt. Solange wir aßen,
wussten wir, wohin mit unseren Händen. Aber dann, satt und erschöpft
und glücklich, war da eine Spur von Angst, einen neuen Anfang zu
machen, etwas Falsches zu tun. Dann seine Hand, erst auf seinem
Schenkel, dann an meinem, endlich. Von dieser neuen Berührung an gab
es nichts Falsches mehr, nur noch Selbstverständnis. Er wollte mir
etwas sagen, und ich gab ihm Mut, indem ich meine Hand auf seine
legte.
„Ich habe Familie.“
Die Tatsache, dass er keinen Ring trug hatte es eine Zeit lang
leichter gemacht, diesen Gedanken von mir weg zu schieben, aber im
Grunde ist es mir klar gewesen. Die ganze Zeit.
„Jacob, ist es dir lieber, wenn wir uns jetzt verabschieden?“
Er sah auf unsere Hände, ließ nicht zu, dass ich meine zurückzog,
schüttelte den Kopf, langsam, aber bestimmt, und sagte:
„Nein. Ich will nicht, dass du gehst.“
Als ich nichts darauf erwiderte, guckte er mir fest in die Augen.
„Bleib bei mir. Bitte. Wenn du kannst.“
Ich blieb.
***
Keine Fragen, keine Absprache, ich blieb an seiner Seite, und er nahm
mich mit auf sein Hotelzimmer. Niemand nahm Notiz von uns, als wir
durch die Lobby gingen, den Fahrstuhl bis ins oberste Stockwerk nahmen
und die Tür hinter uns zuzogen. Nummer 410. Nur das Licht von der
Straße, ein entferntes Autohupen. Sonst atemlose Stille und der Geruch
frisch gestärkter Leintücher. Er nahm mir die Tasche aus der Hand und
legte sie auf den Tisch hinter sich, warf sein Jackett über einen
Stuhl und zögerte nicht. Seine Hände um meinen Hals, seine Hüfte über
meiner, seine Zunge tief in meinem Mund.
Ich schmeckte das Gefühl, das er für mich hatte, schmeckte auch die
Skrupel, gegen die er ankämpfte, aber machtlos war. Mein Mund entzog
sich seinen Küssen, und ich trat einen Schritt zurück, damit er es
aussprechen konnte.
„Ich darf dich nur diesen einen Tag in meinem Leben lieben. Von jetzt
an, nein, von der Casa Mila an bis morgen früh. Aber ich schwöre, dass
ich es von ganzem Herzen tue. Ich frage dich nur dieses eine Mal,
Inken. Bist du dir sicher, dass du dich darauf einlassen willst?“
Ich hatte es längst. Es war zu spät. Wir konnten beide nicht
widerstehen.
Wir liebten uns, keine andere Bezeichnung hätte Gültigkeit, die ganze
Nacht. Immer wieder. Und immer wieder neu. Ich fühlte seinen warmen
Atem zwischen meinen Beinen, er legte sein Gesicht zwischen meine
Beckenknochen, leckte meine Brüste, biss mir in den Hals. Ich schob
mich unter ihn, setzte mich auf ihn, presste mich mit dem Rücken an
seinen Körper. Wir ließen nichts aus, schliefen zwischendurch ein,
nassgeschwitzt und angeschwollen, mein Kopf auf seiner Brust, dann
begannen wir aufs Neue. Jacob war athletisch, drahtig, muskulös, und
seine Haut sah anders aus als meine. Auf andere Weise jung. Er hatte
dichtes Haar auf der Brust. Das war neu für mich, hatte immer gedacht,
das würde mir nicht gefallen, aber es war sexy, so männlich und
erwachsen. Ich wollte jeden Quadratmeter ansehen und anfassen, und ich
tat es. Hatte jede Hemmung abgestreift. Tat Dinge, die ich nie zuvor
getan, an die ich nicht einmal gedacht hatte.
Es war nicht mein erster Sex, nicht mein erster Orgasmus und auch
nicht der letzte, aber das erste Mal ging beides zusammen, das erste
Mal packte es mich, schleuderte mich in andere Sphären, holte mich
zurück und nahm ein zweites, ein drittes Mal Anlauf. Jacob wusste
genau, was zu tun war, sodass mir vor Glück die Tränen über die Wangen
liefen.
Wir nahmen eine Dusche, benutzten nacheinander seine Zahnbürste,
tranken eiskaltes Wasser aus der Minibar und warfen uns nass wie wir
waren wieder aufs Bett. Keine Pause, wir hatten nur diese eine Nacht,
und der hellgraue Himmel im Fenster drohte mit dem Morgen.
War ich noch einmal eingeschlafen? Ich lag in Jacobs Armen und öffnete
die Augen. Er hatte das Gesicht zum Fenster gedreht. Sein Profil
wirkte verzweifelt. War es Reue oder der nahende Abschied? Aber der
feste Griff, mit dem er mich an sich drückte war echt.
Die Zeit war gekommen. Wir würden uns trennen wie vereinbart, ohne
Nachnamen, ohne Versprechungen, ohne Wiedersehen. Ich stand auf, wie
auf Wolken, weil ich ihn immer noch in mir spürte, aber mein Herz
zerriss, als ich meine Kleider zusammensuchte und mechanisch
überstreifte.
Jacob hatte sich auch erhoben und stand nackt, mit dem Rücken zu mir,
am Fenster. Ich war wie versteinert, fertig angezogen, ohne Worte. Er
sah zur Seite und streckte den Arm aus. Ein letztes Mal gingen wir
aufeinander zu, nahmen uns in die Arme, pressten die Lippen
aufeinander. Jacobs Augen waren gerötet. Er ließ mich los und dreht
sich wieder zum Fenster.
Ich schloss lautlos die Tür hinter mir, wankte den Gang entlang,
fühlte einen Anflug von Übelkeit, als der Fahrstuhl nach unten sackte.
Ich rannte durch die Lobby, hinaus auf die Straße, rannte durch
Barcelona, heulend und in Panik, der letzten Nacht niemals entkommen
zu können. Denn ein Zurück gab es nicht.
***
Es war acht Uhr durch, als ich in die Wohnung zurückkam. Auf dem
Fußboden in der Diele lag eine Nachricht von meiner Tante.
„Bitte ruf gleich im Büro an, sobald du zurück bist. Bis später,
Ingrid.“
Ich suchte die Visitenkarte heraus und wählte die Nummer. Ingrid klang
erleichtert, aber auch ein wenig vorwurfsvoll. Sie waren in Sorge
gewesen. Eine Großstadt ist nicht ungefährlich, und sie kannten die
Leute nicht, mit denen ich zusammen war. Meine Mutter hatte spät
abends angerufen, und sie hatten ihr gesagt, ich sei schon zu Bett.
Ich entschuldigte mich, beteuerte, dass alles in Ordnung sei, ich eine
tolle Zeit gehabt hatte und heute abend zu Hause bleiben würde.
„Ruf deine Mutter an, Inken. Sie wartet darauf. Und dann schlaf dich
ordentlich aus. Wir kommen gegen neun, halb zehn.“
Aber ich wollte im Moment mit niemandem sprechen, zog mich bis auf die
Unterwäsche aus und legte mich aufs Bett. Es tat weh, allein zu sein.
Ich wälzte mich hin und her, zitterte, als ob ich fror, aber es war
nicht Kälte oder Müdigkeit, es war die Sehnsucht nach seiner Nähe,
seiner Haut und seinen Händen.
***
Erschrocken bäumte ich mich auf. Wo war ich? Allein in meinem Bett, in
meinem Zimmer. Es war fast zehn, und mein Herz raste.
Ein anderes T-Shirt, Jeans und Schuhe, dann griff ich nach dem
Schlüssel und rannte los. Rannte um mein Leben. Sechs Stockwerke
hinunter, raus auf die Straße und den ganzen Weg zurück bis zu dem
Hotel. Der Portier starrte mir irritiert hinterher, als ich im
Laufschritt die Lobby durchquerte und zwischen den sich bereits
schließenden Türen hindurch in den Fahrstuhl schlüpfte. Der Weg nach
oben schien endlos zu dauern. Ich rang nach Atem und näherte mich mit
zitternden Knien dem Hotelzimmer. Die Tür stand weit offen. Mein Blick
fiel auf das Bett. Ein Hausmädchen strich gerade das frische Laken
glatt und fuhr erschrocken herum, als ich sie ansprach.
Zu spät. Jacob war fort. Abgereist, ohne Nachricht, ohne eine Spur zu
hinterlassen. Niemand konnte mir helfen, weder das Hausmädchen, noch
der Portier. Erschrocken und mitleidig sah er mich an, als ich
schluchzend vor dem Empfangstresen stand.
***
An den Rest des Urlaubs habe ich kaum Erinnerungen. Mir war elend,
alles war wie betäubt. Barcelona war nichts weiter mehr als heiß und
laut. Anderthalb Tage lag ich wie krank im Bett, konnte mich kaum zu
den Mahlzeiten aufrappeln, begann auf das Drängen von Onkel und Tante,
wieder an die frische Luft zu gehen, schlich ohne Ziel durch die
staubigen Straßen, folgte willenlos den Ratschlägen meines
Reiseführers. Und dann kehrte ich noch einmal zurück in die Casa Mila,
stand auf dem Dach und legte meine Hand auf das Gemäuer. Tausend
Menschen, tausend Stimmen. Seine nicht.
Ich dankte Gerd und Ingrid für alles, gelobte, eine wundervolle Zeit
gehabt zu haben und bald wieder zu kommen. Als ich durch das kleine
Fenster im Flugzeug die Stadt unter mir verschwinden sah, ließ ich die
Tränen laufen, denn ich ließ auch einen Teil von mir zurück.
***
Meine Mutter wartete mit Blumen auf mich am Flughafen. Ich wurde
herzlich in Empfang genommen und mit Fragen überhäuft. Ich berichtete
Allgemeines und entschuldigte mich, ich sei müde und kaputt.
Abends kam mein Freund zu Besuch. Er war zärtlich und stürmisch. Ich
versuchte, mich hinzugeben und schaffte es nicht. Er verzieh mir,
tröstete mich sogar, ohne zu wissen, was mich bremste.
Die Beziehung ist wenig später zerbrochen, wie die nächste und
übernächste, wie letztendlich auch meine Ehe. Denn ich habe jeden
meiner Partner mit Jacob betrogen. Im Geiste. Jacob. Ich habe ihn in
mir getragen und werde dies, wie ich vermute, den Rest meines Lebens
tun. Ich habe immer wieder seinen Geruch wahrgenommen, die
schmerzhafte Erinnerung ertragen und ihn vermisst als fehlenden Teil
meiner selbst.
Ich erinnere mich an jedes Detail, an jedes Wort bis zu jenem Morgen,
als wir auseinander gingen. Danach verblasst die Erinnerung. Ich kann
seine Berührungen zurückrufen und erschauere. Meine Träume sind oft
realer als die Realität. Jenen Tag, jene Nacht habe ich unzählige Male
wie einen Film nur für meine Augen sichtbar abgespult.
Noch zwei Mal bin ich nach Barcelona gereist. Alleine. Habe gesucht
und gewartet, ihn hinter jeder Ecke vermutet. Und die Stadt? Hatte für
mich ihren Zauber verloren. Das hat sie nicht verdient, und ich schäme
mich dafür.
Niemand hat je geahnt, dass mein Herz vor Kummer angeschwollen war und
irgendwann abstumpfte. Heute, nach fast dreißig Jahren, sehe ich die
Dinge anders. Ich habe eine gescheiterte Ehe hinter mir, habe zwei
Teenager-Kinder, die ihr eigenes Leben leben, und habe erkannt, was
das Schicksal mir beschert hat.
Ich habe das Glück erfahren. Mein Fehler war, es nie ganz loszulassen,
um mich auf ein neues Glück einlassen zu können, mir nie erlaubt, mich
von dieser Last zu befreien. Habe es nie jemandem erzählt, bin ihm
treu geblieben. Bis heute. Bis heute fühlte ich mich vom Leben
betrogen und habe mich dabei die ganze Zeit selbst betrogen.
Was geblieben ist, ist das Wissen, das Glück und seine Gefahren kennen
gelernt zu haben. Wie viele andere, die ich beobachtet habe, teilen
diese Kenntnis nicht? Manchmal fühle ich mich erhaben, wissend, auch
wenn ich einen hohen Preis dafür gezahlt habe.
Einen Groll ihm gegenüber hege ich nicht. In jenem Moment war es die
Wahrheit. Wenn er mich vergessen hat, dann nur, um sich selbst zu
schützen. Alles, was er zu mir gesagt hat, glaube ich ohne den Hauch
eines Zweifels. 68 Jahre ist er heute. Rentner, wahrscheinlich
Großvater. Darüber nachzudenken bringt mich nicht weiter. Ich habe ihm
verziehen, dass er mich gehen ließ. Dem Leben lange nicht.
Jetzt bin ich zur Ruhe gekommen, habe mein Leben so angenommen, wie es
für mich vorgesehen war. Und hätte ich heute noch einmal die Wahl, die
Liebe zu sehen für einen Tag, ich würde mich wieder darauf einlassen.
Mit Haut und Haar. Aber ich warte nicht mehr darauf.

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